Artikel vom 13. Dezember 2014 In der Kategorie

Familienpsychologisches Sachverständigengutachten zu Entzug des Sorgerechts auf dem Prüfstand des Bundesverfassungsgerichts

Bundesverfassungsgericht, Entscheidung vom 19.11.2014 zu I BvR 1178/14

Das Bundesverfassungsgericht nimmt ein höchst bedenkliches familienpsychologisches Sachverständigengutachten zu dem Entzug elterlicher Sorge bei beiden Eltern zum Anlass, dieses kritisch zu würdigen und für unverwertbar zu erachten. Verstoß gegen das Elternrecht aus Artikel 6 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz.

In dieser Entscheidung hatte sich das Bundesverfassungsgericht mit einem Sachverständigengutachten zu befassen, in welchem zwei nicht verheirateten Eltern, welche beide die elterliche Sorge für ihre im Jahre 2013 geborene Tochter hatten, entzogen und auf das Jugendamt übertragen worden war.

Die Mutter war psychisch erkrankt. Sie hatte bereits vorher vier weitere Kinder geboren, welche sämtlich nicht bei ihr lebten. Sie und der aus einem afrikanischen Land stammende Vater hatten sich noch in der Schwangerschaft mit dem hier betroffenen Kind getrennt. Der Vater lebte mittlerweile mit einer neuen Lebensgefährtin zusammen. Das Kind wurde gleich nach der Geburt in eine Pflegefamilie geben. Das zuständige Amtsgericht hatte darüber zu befinden, ob das Kind in dieser Pflegefamilie zu verbleiben hatte und beiden Eltern wegen Kindeswohlgefährdung die elterliche Sorge zu entziehen sei. Der Vater hatte beantragt, ihm die alleinige elterlicher Sorge zu übertragen; er hatte den Wunsch, das Kind in seinen Haushalt zu nehmen.

Das zu der Frage eines Sorgerechtsentzugs und des Verbleib des Kindes in der Pflegefamilie eingeholte Sachverständigengutachten kam zu dem Ergebnis, dass die Mutter aufgrund ihrer Erkrankung nicht erziehungsfähig sei, dass aber auch der Vater als nur sehr eingeschränkt erziehungsfähig zu betrachten sei. Die Sachverständige empfahl damals, dass das Kind in der Pflegefamilie verbleiben solle.

Der Vater verfolgte sein Begehren bis zum Bundesverfassungsgericht. Dort war insbesondere der Inhalt des Sachverständigengutachtens Gegenstand der Prüfung. Dieses Gutachten wurde durch das Bundesverfassungsgericht als unverwertbar erachtet. Es war von Kriterien geprägt, die noch nicht einmal geeignet waren, die Frage einer Kindeswohlgefährdung abzuklären.

Das Bundesverfassungsgericht setzt sich hier also im Einzelnen mit der Qualität des Gutachtens auseinander und prüft die Frage, ob der Sachverständige zum einen der enormen Tragweite einer Entscheidung, mit welcher ein Kind langfristig von beiden Eltern getrennt wird, Rechnung getragen hat und zum anderen die im Raum stehenden Frage einer Kindeswohlgefährdung und Erziehungsunfähigkeit hinreichend geprüft hat.

Danach muss ein Sachverständiger Fragestellungen zugrunde legen, welche geeignet sind, die zu ermittelnden tatsächlichen Umstände zu klären. Der Sachverständige muss weiter neutral sein; er darf nicht voreingenommen arbeiten. Insbesondere muss der Sachverständige die juristische Beweisfrage in solche psychologischen Fragestellungen umwandeln, die geeignet sind, das rechtliche Merkmal einer Kindeswohlgefährdung umfassend aufzuklären.

Artikel 6 Abs. 3 Grundgesetz erlaubt es – so das Bundesverfassungsgericht – nur dann, ein Kind von seinen Eltern gegen deren Willen zu trennen, wenn die Eltern versagen oder wenn das Kind aus anderen Gründen zu verwahrlosen droht. Dabei berechtigen nicht jedes Versagen und jede Nachlässigkeit der Eltern den Staat, auf der Grundlage seines ihm nach Artikel 6 Abs. 2 Satz 2 Grundgesetz zukommenden Wächteramtes die Eltern von der Pflege und Erziehung ihres Kindes auszuschalten oder gar selbst diese Aufgabe zu übernehmen. Es gehört nicht zur Ausübung des Wächteramts, gegen den Willen der Eltern für eine bestmögliche Förderung der Fähigkeiten des Kindes zu sorgen. Um eine Trennung des Kindes von den Eltern zu rechtfertigen, muss das elterliche Fehlverhalten vielmehr ein solches Ausmaß erreichen, dass das Kind bei den Eltern in seinem körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl nachhaltig gefährdet wäre. Die Annahme einer nachhaltigen Gefährdung des Kindes setzt voraus, dass bereits ein Schaden eingetreten ist oder aber sich eine erhebliche Schädigung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt.

An diesen Kriterien hat sich nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts jede Sachverständigenarbeit zu orientieren.

Dies war in dem hier entschiedenen Fall nicht gegeben. Vielmehr machte die Sachverständige Ausführungen, welche zum einen überhaupt nicht geeignet waren, die Kindeswohlgefährdung abzuklären und welche zum zweiten offensichtlich von einer tiefen Voreingenommenheit dem Vater gegenüber geprägt war. Schließlich war das Gutachten im Verhältnis zu der enormen Tragweite der Entscheidung, die zu treffen war, äußerst knapp gehalten

Um einen Eindruck von diesem Gutachten zu vermitteln:

die Sachverständige hatte aus der gerichtlichen Beweisfrage als Grundlage für ihre Empfehlung die psychologische Fragestellung abgeleitet, ob die Eltern ihre Erziehungsfähigkeit anhand der acht Herausforderungen des Lebens unter Beweis stellen können, zu denen neben der Kindererziehung die Bereiche Arbeit, Leistung und Beruf, kulturelles Leben und staatliche Rechts- und Werteordnung, Freizeitgestaltung, Verhältnis zu den Mitmenschen, Dauerpartnerschaft und Liebe, Umgang mit Konflikten und Einteilung von Ressourcen zählten. Die Erziehungseignung wurde u. a. davon abhängig gemacht, ob die Eltern dem Kind vermittelten und vorlebten, dass es sinnvoll und erstrebenswert ist, zunächst Leistung und Arbeit in einer Zeiteinheit zu verbringen, sich dabei mit anderen messen zu können und durch die Erbringung einer persönlichen Bestleistung ein Verhältnis zu sich selbst und damit ein Selbstwertgefühl aufbauen zu können, und es selbst, wenn die Kindeseltern arbeitslos sind, sinnvoll ist, sich eigeninitiativ  um Arbeit zu bemühen, an Trainingsmaßnahmen teilzunehmen, Termine beim Sozialamt wahrzunehmen, ob die Eltern der geistigen Entwicklung ihres Kindes größtmögliche Unterstützung und Hilfe zukommen lassen, damit die Kinder hier nach ihrem geistigen Vermögen auf eine persönliche Bestleistung hin gefördert werden und diese erbringen können und dass die Eltern den Kindern eine adäquates Verhältnis zu Dauerpartnerschaft und Liebe vorleben.

Abgesehen davon, dass hier fragwürdiges Weltbild und Menschenbild transportiert wird, hat das Bundesverfassungsgericht insbesondere moniert, dass Eltern grundsätzlich frei von staatlichen Eingriffen nach eigenen Vorstellungen darüber entscheiden dürfen, wie sie die Pflege und die Erziehung ihrer Kinder gestalten und wie sie damit ihrer Elternverantwortung gerecht werden wollen. In diese eigene Zuständigkeit der Eltern darf nicht eingegriffen werden. Eine gerichtliche Empfehlung, welche aber auf derartigen Sachverständigenausführungen beruht, lässt den Eltern keinen Spielraum mehr für die eigene Pflege und Erziehungsverantwortung den Kindern gegenüber.

Eltern müssen nach dem BVG ihre Erziehungsfähigkeit nicht unter Beweis stellen. Vielmehr setzt die Trennung eines Kindes von seinen Eltern umgekehrt voraus, dass ein das Kind gravierend schädigendes Erziehungsversagen mit hinreichender Gewissheit festgestellt wird.

Im vorliegenden Falle ist das BVG zu dem Ergebnis gekommen, dass das Sachverständigengutachten unverwertbar war. Es konnte nicht ausschließen, dass die Ergebnisse des Sachverständigengutachtens in die Entscheidung der Vorgerichte eingeflossen war, so dass das Bundesverfassungsgericht die Entscheidung des angegriffenen Oberlandesgerichts Hamm aufgehoben und an dieses zurückverwiesen hat.